VERÄNDERT SICH VERFASSUNGSRECHT MIT DER ZEIT?

Wie ist das jetzt, verändert sich Verfassungsrecht mit der Zeit? Muss es neu verstanden werden, wenn es politisch nicht mehr passt? – Die Frage ist, wie die Diskussionen der letzten Tage zeigen, gar nicht so leicht zu beantworten. Und sie ist in Österreich doppelt schwierig, weil wir zu den Staaten mit einer der ältesten Verfassungen weltweit zählen (bedeutende Vorschriften über die Grundrechte stammen etwa aus 1867!).

 

Im Unterschied zu „normalen“ Gesetzen sind Verfassungen und vor allem die Grund- und Menschenrechte sehr grundsätzlich und weit formuliert (OK, wir müssen zugeben, dass Österreich auch hier eine Ausnahme darstellt, weil manches bis ins kleinste Detail vorgegeben ist). Verfassungen sollen nicht für ein paar Jahre geschaffen werden, sie geben ein langfristiges Versprechen ab. Das macht die Vorschriften aber auslegungsbedürftig und damit auch offen für Veränderungen. In Österreich lässt sich das sehr gut am Verständnis der Grund- und Menschenrechte durch den Verfassungsgerichtshof nachvollziehen. Seit den 1980er-Jahren hat er sich immer mehr für internationale Entwicklungen geöffnet und das Prinzip der Gleichberechtigung mehr und mehr gestärkt (bis zur „Ehe für alle“ 2017). Aber das muss nicht so sein. Auch das zeigt der Verfassungsgerichtshof, wenn er etwa beim Wahlrecht einer Auslegung treu bleibt, die so 1927 formuliert wurde.

 

Damit sind die drei wesentlichen Punkte angesprochen, an denen sich seit langem die Gegner von Verfassungen liberaler Rechtsstaaten stoßen, und die auch in Österreich wieder aktuell sind:

  1. Verfassungen sind ein Versprechen für die Zukunft, auf das wir uns immer wieder berufen können. Als in den USA 1789 die Grundrechte in die Verfassung aufgenommen wurden, wurde das Versprechen gegeben, die Rechte aller, wirklich aller Menschen zu sichern. Dieses Versprechen ist noch immer nicht ganz eingelöst, aber es ist und bleibt da, und jede und jeder kann sich darauf berufen.
  2. Verfassungen liberaler Rechtsstaaten stellen den Menschen in den Mittelpunkt. Sie sichern seine Rechte, sie sichern die freie Entfaltung in Gemeinschaft, sie sichern faire Verfahren. Das hat Vorrang gegenüber allem anderen – der Geschichte, der Nation, der Klasse.
  3. Verfassungen sind verbindliches Recht. Sie sind keine politischen Programme, die mal so und mal anders verstanden werden können. Wir können und sollen über ihre Inhalte streiten, aber wir müssen dabei akzeptieren, dass wir „es nicht alleine tun“. Wir haben die (ja, bisweilen recht seltsam und altmodisch wirkenden) Regeln der Auslegung des Rechts mitzubedenken. Wir haben die Entscheidungen von Gerichten zu beachten, und wir müssen uns auch mit den Meinungen von Rechtsexpertinnen und -experten befassen. Das ist mühsam (und kann frustrierend sein), aber es ist auch da, um den liberalen Rechtsstaat zu sichern.

 

Hören wir nicht auf, diese Versprechen einzufordern! Lassen wir uns immer wieder auf die Diskussion ein!