Sprechen wir über Grundsätze und Werte

Die Beiträge dieser Serie haben zum einen gezeigt, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten im Zentrum stehen, wenn es um wichtige Entscheidungen in der EU geht. Sie haben aber auch deutlich gemacht, dass die Regierungen und schon gar nicht die Kommission oder der Ratsvorsitz alleine vorgehen können. Dieses Anliegen steht schon am Beginn der Europäischen Gemeinschaften, aus denen die heutige EU hervorgegangen ist: Durch Zusammenarbeit, gemeinsame Verfahren und gemeinsame Institutionen sollten nach der Zeit des Nationalsozialismus Frieden, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in Europa gesichert werden. Aus bitterer Erfahrung trauten die Gründer der Gemeinschaften das keinem einzelnen Staat mehr zu. Dasselbe galt auch, als nach dem Ende der Diktatur Griechenland, Portugal und Spanien Mitglieder wurden, und als es zur Annäherung und Aufnahme der ehemals sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas kam.

Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union schreibt diese Werte gleichsam in der „Verfassung“ der EU nieder. Es sind Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Besonders hervorgehoben werden die Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Männern und Frauen auszeichnet.

Was sich auf den ersten Blick so selbstverständlich anhört, wird in mehreren Mitgliedstaaten zunehmend in Frage gestellt. Das passiert nicht, indem etwa Menschenrechte aufgehoben werden. Es geht vielmehr – wie in Polen oder Ungarn – um Maßnahmen, die die Garantie und Durchsetzung dieser Rechte in Frage stellen. Das betrifft die Rechtsstaatlichkeit (im Sinne von Begrenzung des Staates) und vor allem die Unabhängigkeit der Gerichte.

Seit mehreren Monaten wird in der EU diskutiert, wie mit den Entwicklungen umgegangen werden soll. Artikel 7 des EU-Vertrags sieht dafür zwei Verfahren vor: Den Präventionsmechanismus, wenn die Gefahr der Verletzung der Werte des Artikel 2 besteht, und den Sanktionsmechanismus, wenn diese schwerwiegend und anhaltend verletzt werden. Beide Verfahren stellen ziemlich hohe Anforderungen, was auch erklärt, warum sie solange dauern.

Zur Auslösung des Präventionsmechanismus braucht es entweder den Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten im Rat oder einen Beschluss der Kommission oder des Europäischen Parlaments. Der Sanktionsmechanismus kann durch den Vorschlag eines Drittel der Mitgliedstaaten im Rat oder die Kommission ausgelöst werden. Für den Beschluss braucht es beim Sanktionsmechanismus noch eine 4/5-Mehrheit im Rat und eine Mehrheit im Parlament, bevor Empfehlungen ausgesprochen werden können. Beim Sanktionsmechanismus muss der Rat sogar einstimmig beschließen (ohne den betroffenen Staat) und das Parlament muss mit 2/3-Mehrheit zustimmen. Erst dann können z. B. bestimmte Mitgliedsrechte ausgesetzt werden. Einen guten Überblick dazu findet man hier. Das zeigt, dass das Verfahren große Kooperationsbereitschaft bei allen (anderen) Mitgliedstaaten erfordert. Damit ist aber auch die Wahrscheinlichkeit, dass es rasch zu Sanktionen kommt, recht gering. Das Risiko ist dabei, dass das, was Gerade-noch-kein-Verstoß gegen die gemeinsamen Werte ist, immer mehr wird.