GLEICHBERECHTIGUNG

Vieles, was in einer Verfassung geregelt ist, stellt die Antwort darauf dar, was Menschen erfahren und erlebt haben. Die Verfassung soll die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben sein, weil Menschen erlebt haben, was Unsicherheit, Gewalt und Krieg bewirken. Die Verfassung soll Freiheit sichern, weil Menschen erfahren haben, wie zerstörerisch ein Leben in Angst ist. Die Verfassung soll garantieren, dass alle Menschen gleich behandelt werden, weil Menschen erlebt haben (und erleben), was Unterdrückung und Ausgrenzung anrichten.

Damit die Verfassung das erfüllen kann, muss sie mehr sein als eine Sammlung von Versprechen und schönen Ideen. Eine Verfassung muss Rechte verankern und sicherstellen, dass diese Rechte auch durchgesetzt werden können.

Was ist „das Recht“?

Wenn allgemein von „Recht“ die Rede ist, dann sind meistens Gesetze und Rechtsvorschriften gemeint. Sie regeln, wie man sich in bestimmten Situationen – etwa im Straßenverkehr – verhalten muss. Sie legen fest, wie ein Unternehmen gegründet werden kann. Sie regeln, was passiert, wenn jemand einen anderen Menschen verletzt. Sie bestimmen, was Polizei, Verwaltung und Gerichte zu tun haben.

Was bedeutet es, „ein Recht“ zu haben?

Wenn gesagt wird, dass „jemand ein Recht hat“, dann bedeutet das, dass ein Mensch bestimmte Ansprüche gegenüber anderen (oder dem Staat) stellen kann. Er oder sie kann fordern, dass jemand etwas tut oder nicht tut („unterlässt“). Rechte unterscheiden sich von anderen Ansprüchen (einem Wunsch, einer Bitte) in mehrfacher Hinsicht:

  • Sie sind förmlich festgelegt (z. B. in der Verfassung, in einem Gesetz),
  • man muss sich auf sie in einer bestimmten Form berufen,
  • es besteht immer auch ein Bezug zum Staat,
  • wenn ein Anspruch „zu Recht“ (also tatsächlich) besteht, kann er durchgesetzt werden.

Rechte müssen durchgesetzt werden können

Immer, wenn wir von Recht sprechen – also von Rechtsvorschriften oder Rechten, die jemand hat – macht Recht aus, dass es durchgesetzt werden kann. Das heißt, dass andere oder der Staat akzeptieren müssen, dass jemand einen Anspruch auf etwas hat, dass jemandem „etwas zusteht“. Wenn dieser Anspruch nicht freiwillig erfüllt wird, kann er in vielen Fällen auch „mit Zwang“ durchgesetzt werden. Das geschieht zum Beispiel dadurch, dass das Gehalt eingezogen wird oder auch dass jemand ins Gefängnis muss. In allen diesen Fällen gilt aber: Rechte können nicht „einfach so“ gegenüber anderen Menschen durchgesetzt werden. Es braucht immer ein geregeltes Verfahren, und über Zwang muss immer ein Gericht oder eine Behörde entscheiden (siehe Text Strafen). Niemand darf einem anderen Menschen eine Sache oder Geld wegnehmen, weil er meint, ein Recht darauf zu haben. Niemand darf einem anderen Gewalt antun oder jemanden gefangen nehmen, weil er meint, im Recht zu sein. Es soll nicht „das Recht des Stärkeren“ gelten, sondern über Rechte soll in einem fairen Verfahren durch geschulte Richterinnen und Richtern entschieden werden.

Rechte und Beziehungen

Eine Rechtsordnung und die Rechte, die in ihr festgehalten sind, regeln immer Beziehungen zwischen Menschen. Auch wenn jemand sein Recht „auf eine bestimmte Sache“ – etwa ein Haus – geltend macht, führt er oder sie nicht ein Gerichtsverfahren gegen das Haus. Er oder sie behauptet ein Recht gegenüber anderen Menschen.

Die Rechtsordnung und die Rechte, die jemand hat, sollen Orientierung und Sicherheit im Umgang zwischen Menschen bieten. Sie halten fest, wie wir miteinander umgehen sollen. Sie sollen sicher stellen, dass wir uns auch im Umgang mit uns fremden Menschen aufeinander verlassen können.

Wenn sich jemand auf sein Recht beruft, kann das bedeuten, dass im Umgang miteinander etwas nicht passt. Es kann bedeuten, dass nicht klar ist, nach welchen Regeln vorgegangen werden soll. Es kann bedeuten, dass die Rechte des anderen bestritten werden. Es stimmt also etwas in Beziehungen nicht. Jemand verweigert dem anderen etwas, es gibt einen Streit, der sich nicht lösen lässt. Viele Menschen sind daher auch skeptisch, wenn jemand „sein Recht“ einfordert. Sie meinen dann, dass jemand nur seinen Willen durchsetzen möchte, nicht zurückstecken kann oder Streit sucht. In Österreich gibt es in diesem Zusammenhang auch die Redewendung: „Wir werden schon keinen Richter brauchen.“

Es ist auch so, dass Menschen sich auf ihr „Recht“ berufen oder zu Gericht gehen, um andere einzuschüchtern. Aber auch dann ist es nicht „das Recht“, das Unfrieden stiftet. Konflikte, Streit oder das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, entstehen zuerst. Rechte sind dann ein Mittel, um solche Konflikte sichtbar zu machen. Rechtsverfahren (z. B. bei Gericht) können die Möglichkeit schaffen, den Streit in einer bestimmten Weise zu klären und eine Entscheidung zu treffen.

Das Recht, Rechte zu haben

Rechte zu haben bedeutet, Mitglied einer Rechtsgemeinschaft zu sein, Achtung zu erfahren und sein Leben (möglichst) selbstbestimmt leben zu können. In einem modernen Staat ist das Recht die Grundlage des Zusammenlebens. Es regelt die Beziehungen, zwischen allen Menschen, die hier leben (siehe Text Was ist die Verfassung). Wer Rechte hat, kann an diesem Zusammenleben teilnehmen. Wir sagen, dass jemand als „Rechtsperson“ anerkannt wird. Wer keine Rechte hat, bleibt vielfach ausgeschlossen. Die Philosophin Hannah Arendt, die selbst lange als Flüchtling und „Staatenlose“ leben musste, hat daher gesagt, dass das erste Menschenrecht das Recht ist, Rechte zu haben. In Österreich ist seit 1811 bestimmt: „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten.“ (§ 16 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch).

Gleiche Rechte

Gleichberechtigung heißt, dass alle Menschen Rechte haben – es kommt nicht darauf an, ob sie ein Mann oder eine Frau sind, Kinder oder Erwachsene, körperlich oder geistig beeinträchtigt , woher sie kommen, woran sie glauben, welche Hautfarbe oder welche sexuelle Orientierung sie haben. Recht sichert, so sagen wir, die Würde eines jeden Menschen. Niemand soll nur aufgrund bestimmter Merkmale diskriminiert (= ungleich oder schlechter behandelt) werden.

Gleichberechtigung heißt nicht, dass keine Unterschiede zwischen Menschen gemacht werden dürfen. Gleichberechtigung stellt vielmehr sicher, dass alle Menschen – so unterschiedlich wie sie sind – gleiche Rechte haben und sich frei entfalten können. Gleichberechtigung schließt auch nicht aus, dass in Gesetzen Unterschiede zwischen verschiedenen Menschen oder Gruppen gemacht werden. Das darf aber nur dann geschehen, wenn Unterschiede sehr genau und sachlich begründet werden können. Dafür ist es immer auch erforderlich, den eigenen Standpunkt zu bedenken. Ebenso ist es erforderlich, zu überlegen, mit welchem Maßstab (und vor welchem Hintergrund) jemand oder etwas als gleich oder verschieden wahrgenommen wird. Der Anspruch auf Gleichberechtigung kann es auch erforderlich machen, einzelne Menschen oder Gruppen besonders zu fördern.

Die Grundlage moderner demokratischer Rechtsstaaten (siehe Text Rechtsstaat) ist, dass jeder Mensch gleiche Rechte hat. Das ist nichts Selbstverständliches. Im Deutschen kommt das durch das Wort Gleichberechtigung besonders zum Ausdruck. Wenn nur von „gleichen Rechten“ gesprochen wird, meint das, dass diese schon bestehen. Wenn aber von „Gleichberechtigung“ gesprochen wird, meint das auch einen Anspruch und einen Vorgang – den Auftrag, wirkliche Gleichberechtigung herzustellen.

Im Zentrum: jeder Mensch

Jeder Mensch hat gleiche Rechte. Wenn wir von Gleichberechtigung sprechen, dann steht der einzelne Mensch im Zentrum. Das bedeutet nicht, dass Familie und Verwandtschaft, Religionsgemeinschaften oder andere Gruppen, denen Menschen angehören, unwichtig wären. Kein Mensch lebt nur für sich, und die Beziehungen zu anderen haben große Bedeutung für das Leben eines jeden Menschen und das Zusammenleben aller.

Dass jeder Mensch Rechte hat bedeutet aber, dass jeder Mensch ein Recht hat, als Einzelner behandelt zu werden, und dass seine Ansprüche aber auch Anschuldigungen ihm gegenüber genau geprüft werden. Dass jeder Mensch Rechte hat, bedeutet, dass er oder sie seine Rechte geltend machen kann – egal was seine Familie oder eine andere Gemeinschaft darüber denkt.

Der lange Weg zur Gleichberechtigung

Dass alle Menschen Rechte haben, und dass sie gleichberechtigt am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teilnehmen können, war lange Zeit unvorstellbar. Auch heute noch wird das von vielen Menschen und in vielen Staaten der Erde bestritten. Sie finden, dass bestimmte Merkmale, die Menschen unterscheiden (Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, Religion) auch über den Status eines Menschen in Staat und Gesellschaft entscheiden sollen. Je nach Merkmalen, die ein Mensch hat, soll er oder sie über bestimmte Rechte verfügen oder nicht. Immer noch werden Unterschiede nach der Staatsbürgerschaft gemacht (siehe Text Republik).

Eine solche Ordnung der Gesellschaft war in Europa über Jahrhunderte selbstverständlich. Manche hatten mehr Rechte – nur sie konnten z. B. Land besitzen oder Staatsämter ausüben. Viele Menschen hatten überhaupt keine Rechte. Diese Unterscheidungen zwischen Menschen fallen besonders auf, weil im Mittelpunkt des christlichen Glaubens (dem die weitaus meisten Menschen angehörten) die Botschaft steht, dass jeder Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist. Nach seiner Lehre begegnet Gott dem Menschen in jedem anderen Menschen und für Christinnen und Christen sollten eigentlich keine Unterschiede nach Herkunft, Stellung oder Reichtum gelten.

Im 15. Jahrhundert begannen Gelehrte über diese Unterschiede neu nachzudenken. Sie lasen aber nicht nur die Bibel sondern auch von alten Philosophen, die sich Gedanken über den Menschen und was es heißt, ein gutes Leben zu führen, gemacht hatten. Wir bezeichnen diese Gelehrten als „Humanisten“ (vom lateinischen „homo“ = Mensch). Ihre Überlegungen standen am Beginn einer langen Entwicklung, die zur sogenannten „Aufklärung“ führte. Mit ihr wurde auch die alte Ordnung mit ihren vielen Unterschieden und den vielen Menschen ohne Rechte, hinterfragt. Viele Philosophen und Schriftsteller versuchten, eine allgemeine (also nicht bloß religiöse) Begründung der Gleichheit und Freiheit aller Menschen zu finden. Zuerst in Nordamerika, den heutigen USA, und dann in Frankreich wurde im späten 18. Jahrhundert bestimmt, dass alle Menschen frei sein und die gleichen Rechte haben sollten. Diese Freiheit und Gleichheit war nun nicht mehr religiös gefordert, sondern durch eine von Menschen geschaffene Verfassung und das Recht bestimmt. Seither haben sich viele Menschen dafür eingesetzt, Gleichheit und Würde universal – also für die ganze Welt – zu formulieren, und dafür, das Bewusstsein dafür in allen Religionen und Kulturen zu stärken.

Vorstöße und Rückschläge

Das bedeutet aber nicht, dass in diesen Ländern sofort Gleichberechtigung herrschte. Der Anspruch war da, aber es waren zunächst nur bestimmte Männer gleichberechtigt. In den USA sollte es noch Jahrzehnte dauern, bis die Sklaverei abgeschafft wurde. Erst in den 1960er-Jahren wurde die (rechtliche und tatsächliche) Trennung zwischen Weißen und Schwarzen abgeschafft. In vielen Ländern dauerte es lange, bis Angehörige anderer als der Mehrheitsreligion alle Rechte im Gesellschafts- und Wirtschaftsleben erhielten (z. B. Jüdinnen und Juden). Ebenso schwierig und langwierig waren die Diskussionen, bis Frauen die gleichen Rechte wie Männer hatten. In der Schweiz bekamen Frauen erst 1971 das Wahlrecht (in einigen Teilen der Schweiz dauerte es sogar bis 1990). In Österreich konnte der Ehemann bis 1977 bestimmen, ob seine Frau arbeiten durfte oder nicht. Bis heute kämpfen Homosexuelle auch in Österreich für das gleiche Recht auf Eheschließung.

Gleichberechtigung wurde und wird immer wieder in Frage gestellt. Und es kann, wie die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert zeigt, sehr schnell gehen, dass Menschen aufgrund bestimmter Merkmale rechtlos werden. Als die Nationalsozialisten in Deutschland 1933 an die Macht kamen, war die politische Auseinandersetzung schon über Jahre davon geprägt, dass vor allem Jüdinnen und Juden aber auch politisch Andersdenkende als „Schädlinge“ bezeichnet wurden. Nun wurden ihnen auch grundlegende Rechte, zunächst etwa im Geschäftsleben und dann in immer mehr Bereichen, verweigert. Dann kamen Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung. Diese Entwicklungen waren nicht auf Deutschland beschränkt. Sie passierten in vielen Teilen Europas.

Diese Erfahrungen führten dazu, dass nach dem 2. Weltkrieg und dem Ende der Naziherrschaft die Menschenrechte international geschützt werden sollten. Die Vereinten Nationen haben die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (siehe Text Österreich in der Welt) erlassen. In Europa wurden die Europäische Menschenrechtskonvention (siehe Text Österreich in der Welt) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (siehe Text Österreich in der Welt) geschaffen. Sie stellen sicher, dass jeder Mensch gleiche Rechte hat und diese auch dann durchsetzen kann, wenn sie ihm in seinem Heimatstaat verweigert werden.

Die Erinnerung an den Holocaust, die Vernichtung von fast 6 Millionen Jüdinnen und Juden, und an die Verfolgung und Tötung von politisch Andersdenkenden, Behinderten, Homosexuellen, Roma und Sinti, bekennenden Christinnen und Christen und Zeugen Jehovas ist nicht nur ein Gedenken an die Opfer. Es ist nicht nur eine Mahnung, wieviel Böses Menschen tun können. Es ist auch die Erinnerung daran, dass jeder Mensch gleiche Würde und gleiche Rechte hat, und es ist der Auftrag, jedem, der diese Rechte in Frage stellt, entgegenzutreten.

Nicht nur im Recht

Die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass es nicht ausreicht, wenn Menschen „nur im Recht“ als gleich anerkannt werden. Damit Recht und Gesetze wirksam werden, braucht es Institutionen, die sie bekannt machen, einfordern und durchsetzen. Vor allem braucht es Menschen, die von ihnen überzeugt sind, und die in ihrem Alltag, in ihren Familien, in Schulen und Betrieben alle anderen als gleichberechtigt anerkennen. Es braucht Menschen, die sensibel und respektvoll auf Entwicklungen reagieren, mit denen andere offen, verdeckt oder einfach aus Unbedachtheit schlecht gemacht oder erniedrigt werden. Es braucht dieses Bewusstsein im Alltag und im Großen – wenn etwa die finanzielle und soziale Ungleichheit zwischen Menschen so groß wird, dass es dadurch auch zu Gefährdungen der Demokratie und des Rechtsstaats kommt, oder wenn Menschen auf große Ablehnung stoßen weil sie flüchten mussten und Fremde sind.

Alexis de Tocqueville, ein französischer Gelehrter, hat schon 1840 geschrieben, dass es nur zwei Wege gebe, Gleichberechtigung herzustellen: „Man gewährt entweder jedem Bürger Rechte oder keinem.“ Tocqueville setzte sich in einer Zeit für gleiche Rechte ein, in der die alte Religion und die gemeinsamen Sitten sich rasch zu verändern begannen. Er sah es daher als wichtigste Aufgabe „inmitten der allgemeinen Unruhe“ an, die Idee der Rechte mit dem persönlichen Interesse zu verbinden. Wenn das nicht gelänge, fragte er, was würde dann zum Regieren der Welt übrigbleiben als die Furcht?

Foto: Anna Konrath

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