Gewaltenteilung und die österreichische Bundesverfassung

Wer in der österreichischen Bundesverfassung oder im Rechtsinformationssystem RIS nach „Gewaltenteilung“ sucht, findet nichts (außer, dass der Begriff in manchen Schullehrplänen vorkommt). Das hat einen besonderen Grund: Wie wir in den Postings über Geschichte und Montesquieu gesehen haben, hat sich die Idee der Gewaltenteilung über eine lange Zeit entwickelt, die vor allem durch Monarchien geprägt war. Als die österreichische Bundesverfassung 1920 geschaffen wurde, wollten sich viele davon abgrenzen. Der Jurist Hans Kelsen, der eine wichtige Funktion bei der Erstellung des Verfassungstextes hatte und bis heute viel im Verständnis der Verfassung prägt, nannte Gewaltenteilung gar „veraltet“. 

Das klingt seltsam. Es heißt aber nicht, dass nach der Bundesverfassung alle Macht in einer Hand konzentriert sein soll. Es sagt jedoch aus, dass sich in einem modernen Verfassungsstaat, der auf Demokratie und Parlamentarismus baut, nicht mehr alles in ein dreiteiliges Schema pressen lässt. 

In der Monarchie stand der Kaiser dem Parlament gegenüber. Er konnte die Regierung ernennen und entlassen, er konnte das Parlament auflösen und er konnte auch Dekrete anstelle von Gesetzen des Parlaments erlassen (jedenfalls für eine bestimmte Zeit und nicht ganz unähnlich dem, was der US-Präsident heute noch kann). Nach der Bundesverfassung sollte Österreich aber eine parlamentarische Republik sein. Der Nationalrat wählte – zumindest bis zur Verfassungsreform 1929 – die Bundesregierung und konnte sie auch wieder abwählen. Die Bundesregierung brauchte also die Unterstützung einer Parlamentsmehrheit, und sie braucht diese bis heute noch. 

Das bringt das Muster dreier klar geteilter Staatsgewalten durcheinander. Es brauchte daher eine neue Basis, und die bietet unsere Bundesverfassung sehr wohl: Sie sieht zunächst einmal vor, dass alles im Staat nur auf Grundlage der Verfassung und der Gesetze erfolgen darf. Sie verteilt die Aufgaben und Funktionen im Staat sehr genau auf viele unterschiedliche „Organe“. Diese sind in vieler Weise voneinander abhängig. Es gibt gegenseitige Kontrollrechte (die auch einer Minderheit zustehen, wie z. B. das Recht, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen). Sie bestimmt, dass Richterinnen und Richter unabhängig sein sollen und sie schafft einen starken Verfassungsgerichtshof. Damit wird politische Macht in einem Ausmaß begrenzt, geregelt und kontrollierbar gemacht, wie es in einem System, in dem alles strikt getrennt ist, nie möglich wäre.